Jenseits des Stigmas – unser neues Verständnis von psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz

HR-Allgemein 09.26.2019

Wenn wir über unser allgemeines Wohlbefinden sprechen, meinen wir oft nicht nur unsere körpereigene Gesundheit, sondern beziehen uns auch auf das, was uns umgibt, was uns antreibt oder was uns berührt. So ist auch unsere berufliche Karriere ein wichtiger Teil unseres persönlichen Wohlbefindens. Unser Job ist es schließlich, dem wir jeden Tag viele Stunden widmen und niemand möchte morgens zu seinem Arbeitsplatz aufbrechen, wenn dort nur Sorgen und Probleme auf uns warten.

Doch leider ist gerade dies für viele Mitarbeiter oftmals schon zur Realität geworden. Hatten wir früher weniger Stress im Beruf? Weniger Stress im Alltag? Woher kommt der rasante Anstieg an psychischen Erkrankungen und warum ist heutzutage Burnout eine Volkskrankheit?

Ein neuer und vielleicht ganz elementarer Teil dieser Frage ist, dass im heutigen Arbeitsumfeld die Grenzen zwischen Arbeitsstress und persönlichem Stress sehr stark verschwimmen. Früher wurden abends alle Papierdokumente, soweit möglich, eingeordnet und verstaut. Klappe zu, Licht aus, abschalten. Heutzutage ist alles in der Cloud. Schnell noch in der überfüllten U-Bahn auf dem Weg nach Hause diese unangenehme E-Mail lesen, während schon die Nachricht des Partners in der Inbox wartet, mit der Frage, wann man denn heute nach Hause kommt, denn Kind und Familie sind auch ein wichtiger Teil unseres Daseins und wollen auch volle Aufmerksamkeit. Auch später am Abend ist Abschalten schwierig, die E-Mail nur einen Handgriff entfernt und alle Dokumente in Sekunden im Home Office auf dem PC verfügbar. Digital Toxicity, oder die ständige Erreichbarkeit, führt dazu, dass wir unseren persönlichen Stress von Zuhause mit ins Büro nehmen und unseren Stress von der Arbeit mit nach Hause.

Doch auch externe Faktoren, wie die aufwändige und kostspielige Pflege von Angehörigen, steigende Mieten, Schulden und hohe Betreuungskosten für unserer Kinder beeinflussen unsere körperliche Energie und Gesundheit auf allen Ebenen. Darunter leidet schlussendlich auch unsere Motivation am Arbeitsplatz.

Ärzte und Apotheker warnen schon länger davor, dass auch finanzieller Stress zu Gesundheitsproblemen führen kann. Depressionen, Angstzustände, Schlafstörungen, hoher Blutdruck und Diabetes sind nur einige Krankheitsbilder, die mit Stress jeglicher Art im Zusammenhang stehen. Schlussendlich bleiben Mitarbeiter dem Unternehmen fern oder sie nehmen diesen finanziellen Stress und Druck vom häuslichen Umfeld mit in die Arbeit.

Glaubt man den neuen Studien, scheint es so zu sein, dass von Burnout und finanziellem Druck vor allem die sogenannte „Sandwich-Generation“ betroffen ist. Diese Gruppe, die zwischen steigenden Ausbildungskosten der Kinder und der Pflegebedürftigkeit von Eltern oder anderen Familienangehörigen steht, plagen finanzielle Sorgen am meisten. Die Generation, die eigentlich zum guten Mittelstand gehört und meist zwei recht gute Einkommen hat – ihr fällt es am Schwersten sich zu öffnen, wenn es um das Thema „finanzielles Wohl“ geht. Economic well-being scheint eines der letzten Tabus am Arbeitsplatz zu sein.

Lange fühlten sich viele Arbeitnehmer nicht bereit, diese Probleme vollständig anzugehen. Stress und Angst zogen wie eine Wolke über das Selbstbewusstsein und erschwerten den Arbeitsalltag. Arbeitgeber sahen sich auch lange Zeit gar nicht in der Pflicht, dieses Problem anzugehen. Die Meinung war, dass man mit der Gehaltszahlung an den Mitarbeiter schon mehr als genug getan hatte, um es einmal überspitzt zu formulieren. Ihre Pflicht in Hinsicht auf well-being war sozusagen erfüllt, ob aus Angst oder auch Wissenslücken, wurde vieles tot-geschwiegen. Mittlerweile kann man einen anderen Trend beobachten, denn Wohlergehen bedeutet mehr als das, was der Mitarbeiter mit dem Gehalt erhält. Vielmehr geht es darum, persönliche Herausforderungen der Angestellten zu verstehen und den Mitarbeitern Strategien an die Hand zu geben, um mit den Veränderungen unserer Zeit umzugehen. Langsam und stetig wird das Thema um die persönlichen Finanzen salonfähig und mit Fingerspitzengefühl versucht man an betroffene Arbeitnehmer heranzutreten. Dies geschieht nicht nur aus einer Notwenigkeit heraus, dass die Burnout-geplagte End-30-er/ Mid-40-er-Generation mehr vom Arbeitgeber verlangt, als nur die Basics in der Gesundheitsunterstützung. HR hat verstanden, dass es um einen ganzheitlichen Ansatz hierbei geht – Wohlbefinden und Gesundheit gehen Hand in Hand und genau da setzt HR-Wellness an und hebt das Thema Mitarbeitergesundheit auf ein zeitgemäßes Level. Anders, als beim klassischen betrieblichen Gesundheitsmanagement, geht es hier um weitaus mehr, als präventive Gesundheitsförderung. Im Fokus steht ein bedürfnisorientiertes Konzept mit dem Ziel, nicht nur die Gesundheit, sondern auch das allgemeine Wohlbefinden des Einzelnen zu steigern und hierfür braucht es mehr als Maßnahmen zur Vorbeugung gesundheitlicher Risiken wie „Endlich Nichtraucher“ oder „Fitness in der Mittagspause“.

Unternehmen haben auch verstanden, dass auch die persönlichen Finanzen eines Mitarbeiters von grundlegender Bedeutung sind. Natürlich gibt es keine Zauberformel für das finanzielle Wohlbefinden aller Mitarbeiter, denn die Situation jedes Einzelnen ist anders und erfordert von uns unterschiedliche Lösungen und Aufmerksamkeit. Dennoch lässt sich ein allgemeiner Trend sehen und innovative Wege, die Unternehmen gehen, sind vielfältig und vor allem machbar. So reichen diese von online Selbsteinschätzungskursen, über diverse Materialien, zu Seminaren, Kursen hin zu Webinaren für Betroffene. Manche Unternehmen gehen sogar so weit, eigens angestellte Fachberater zur Verfügung zu stellen, bzw. einmal die Woche unabhängige Experten, zum Beispiel die Schuldnerberatung, ins Haus zu holen. Anonymität steht dabei zweifelsohne ganz oben. Dabei werden Familienangehörige genauso einbezogen wie auch ehemalige Mitarbeiter, die schon in Rente sind. Gruppenkurse vs. Individualberatung können gebucht werden.

Das entscheidende Erfolgskriterium ist aber, dass dieser ganzheitliche, bedürfnisorientierte Ansatz aus seinem Stiefkind-Dasein im HR-Management herausgehoben wurde und mittlerweile als zentrales Anliegen der Geschäftsstrategie und der Unternehmenskultur behandelt wird. Nicht nur der aktuelle Deloitte „Global Health and Wellness Report“ unterstreicht, dass Führungskräfte die Notwendigkeit von Wellness-Initiativen erkannt haben und diese heute auch als Investition statt als Kosten betrachten.

Ein Gesundheitsmanagement, das mehr als die betriebliche Vorsorgeuntersuchung oder den jährlichen Aktionstag im Unternehmen bietet, ist mittlerweile auch zu einem attraktiven Benefit geworden und spricht nicht nur potenzielle Bewerber an.

Auch die KPIs können sich bei konsequenter Umsetzung sehen lassen: Leistungsfähigere Team, weniger Fehlzeiten und sinkende Krankheitskosten sind nur einige davon.

Mitarbeiter wollen mehr, als nur Hilfe zur Selbsthilfe, sie wollen ernst genommen werden, verstanden werden und sich gehört fühlen. Schon Robert Bosch wusste, dass der Erfolg seines Unternehmens mit der Zufriedenheit der Mitarbeiter steht und fällt: „Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne zahle. “ (Robert Bosch, 1861 – 1942)

Jedem modernen Arbeitgeber ist klar, dass mehr zur Mitarbeiter Zufriedenheit gehört als das Gehalt. Aber am Prinzip, dass die Gesundheit des Unternehmens der Gesundheit des Mitarbeiters entspricht, hat sich in den letzten 100 Jahren nichts geändert, nur die Rahmenbedingungen sind anders und vielschichtiger geworden.

Anja Muecher

Anja Muecher bloggt für das HRM Research Institute (HRM.de) aus Amerika über die amerikanische HR & Recruiting Branche. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern seit 2015 in Toronto, Kanada, und ist für Firmen und Privatpersonen selbstständig im HR-Bereich tätig. Sie begann ihre HR-Karriere 2006 bei „The Boston Consulting Group“ in Stockholm, Schweden. […]

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